Eine Frage der Sichtweise...

...oder weiße Stiefmütterchen

nehmen wir mal an, jemand sagt zu uns: „Ich mache mir Sorgen um dich.“
Wir selbst haben natürlich sofort eine Meinung dazu, denn: sich Sorgen machen ist auf den ersten Blick nicht schön, Sorgen belasten und machen Falten. Wir finden es sehr beunruhigend, dass wir offensichtlich ein Anlass für Sorgen sind.
Wir haben nun die Wahl verschiedene Positionen einzunehmen. Eine Möglichkeit ist sofort in kognitiver Dissonanz zu sein, oder anders ausgedrückt: dagegen. Dagegen, dass jemand es wagt sich Sorgen zu machen, da doch aus der eigenen Sicht gar kein Grund dafür besteht – jetzt wo man gerade einen „Lauf“ hat...Wir könnten aber auch erschrecken und denken: Ich bin nicht in Ordnung, deshalb macht sich jemand Sorgen. Das sind zwei extreme Positionen.
Dazwischen liegen viele andere Standpunkte, die man einnehmen kann, zum Beispiel: „Interessant, dass du dir Sorgen machst, aber weswegen?“ oder „ich weiß, du machst dir gerne Sorgen um alles Mögliche, beruhige dich!“ oder ganz schlicht: Es ist alles ok, ich hatte kein Handynetz, Akku alle und ich bin aufgehalten worden...“
Es hängt immer von der Sichtweise ab, wie wir in der Kommunikation mit unserem Gegenüber vorgehen.
In einem Gedicht von Sarah Kirsch macht sich eine Frau Sorgen, denn ihr Geliebter kommt nicht zum vereinbarten Treffpunkt im Park, wo sie auf ihn wartet. Sie macht sich Gedanken: hatte er einen Unfall, gibt es eine Umleitung, lässt seine Frau ihn nicht gehen? Eine sich wiegende Weide spiegelt ihre schlimmste Befürchtung: Was wenn er tot ist?  Und die Frau zeigt echte Größe in ihren Gedanken. Lieber nimmt sie in Kauf von ihm nicht mehr geliebt zu werden, als ihn tot zu wähnen...
Bei den weißen Stiefmütterchen
Sarah Kirsch, Katzenkopfpflaster, München 1978